Augsburger Plätze als Orte der Kommunikation
Königsplatz, Rathausplatz, Willy-Brandt-Platz - wir laufen über diese Plätze, meiden oder besuchen sie bewusst. Doch warum sehen diese Orte gerade so aus? Wie haben sie sich gestalterisch und in ihrer Nutzung entwickelt? Wie könnten sie anders gestaltet werden und welche Auswirkungen hätte dies auf die Kommunikation im öffentlichen Raum?
PLÄTZE IM FOKUS DER STADTPLANUNG
Interview mit Matthias Rothdach
Herr Rothdach, als Stadtplaner setzen Sie sich mit der Funktion und Nutzung des öffentlichen Raums auseinander. Sie sind Leiter des Stadtplanungsamtes in Landsberg, waren zuvor in Memmingen tätig, wo Sie als Stadtplaner und Stadtraumpsychologe die Umgestaltung verschiedener Plätze und der Fußgängerzone geleitet haben. Welche Bedeutung hat ein Platz für Sie?
Mein Hauptinteresse gilt den Menschen und dem, was sie in ihrem Verhalten, ihrer Bewegung und ihrer Wahrnehmung beeinflusst. Mich beschäftigen menschliche Beweggründe.
Ein öffentlicher Platz ist im besten Fall ein Sozialisationsraum, der Teilhabe an der Gesellschaft bietet. Ist das nicht oder nur eingeschränkt der Fall, weil der Raum durch Parkplätze, Fahrbereiche, Haltestellen etc. massiv beansprucht ist, schwächt das den Platz in seiner Sozialfunktion. Jeder möchte vom öffentlichen Raum profitieren, z. B. Händler, die Waren vor ihr Geschäft stellen möchten, oder Gastronomen, die ihn als erweiterte Bewirtungsfläche nutzen wollen. Das ist mein Blickwinkel: Welche Nutzungen sind da, welche wären nötig und geht das konform mit dem, was der öffentliche Raum für mich als Mensch sein könnte? Hierbei geht es nicht bloß um gestalterische Themen, sondern es müssen Dinge zusammenkommen, die zusammengehören. Der Mensch sucht den Menschen, er sucht nicht das Auto.
Ihre stadtplanerische Prämisse ist die des Sozialraumes. Welche weiteren Kriterien sind für Struktur, Gestaltung oder auch die „Lesbarkeit“ eines Platzes ausschlaggebend?
Ich gehe mal von Memmingen aus. Dort gibt es eine Vielzahl von Plätzen, die in einer gewissen Abhängigkeit voneinander stehen und meine Laufentscheidungen mit beeinflussen, also „Wo gehe ich hin, wo komme ich an?“ „Was bewegt mich, was zieht mich quasi durch die Stadt?“ Das ist ein Wechselspiel: „Habe ich nur vorbestimmte Laufwege? Oder habe ich meine eigenen? Das war mein Thema, ich nannte es „my way“. Jeder findet seinen „my way“. Jeder Mensch hat seine eigene „mind map“, sein individuelles Navigationssystem. Jeder Raum wirkt anders auf die Nutzer. Größe, Form, Topografie und Dimension spielen eine steuernde Rolle. In einem relativ großen Altstadtgefüge wie in Memmingen gibt es eine Abfolge von unterschiedlich zu gewichtenden Plätzen, teils wie an einer Perlenkette aufgereiht. Dieses Thema war herauszuarbeiten, sowohl mit der Platzgestaltung als auch mit der stadtraumbildenden Architektur.
Stadtteil beherrschende Plätze, wie der Marktplatz im Norden und der Schrannenplatz im Süden, sind repräsentativ und müssen, neben dem Aufenthalt, das Zusammenkommen und Verteilen ermöglichen. Dann gibt es Platzsituationen, wie den Weinmarkt als Fuge zwischen dem Patrizier- und dem Weberviertel. Man kann an diesem Platz genau erkennen, welche Funktion er einmal hatte. Mit seiner langgestreckten Form war er der ideale Platz, um dort Holz aufzufahren. Früher hieß er auch Holzmarkt. Schön zu erkennen ist, dass Form, Funktion und Platzqualität zusammenhängen.
Ein rein formalistisch bestimmter und idealisierter Platz ist nicht das Ziel. Die Differenziertheit ist wichtig und das wollte ich auch an den Wegen spiegeln, die zu den Plätzen führen. Wir haben Gassen, kleine Straßen, Höfe und platzartige Räume entwickelt, die einen kurzweiligen und vielfältigen städtischen Bewegungsraum für die Fußgänger aufspannen. Das Herausarbeiten dieser Bezüge bezeichne ich als denkmalpflegerischen Städtebau.
Dass es am Schrannenplatz einmal einen Klostergarten gab und einen Klosterhof war nicht mehr zu sehen, weil man die Anlagen abgetragen und an ihrer Stelle Parkplätze errichtet hatte. Wir haben sie rückgebaut, um auch die unterschiedlichen räumlichen Dimensionen wieder erfahrbar zu machen. Das macht die Geschichte lebendig und plötzlich wird ein Gebäude, wie der vergessene Kreuzgang-Nordflügel aus dem 15. Jahrhundert, wieder präsent und wertig. Aus dem kollektiven Gedächtnis bereits verschwunden, ist er jetzt wieder da.
So lässt sich Geschichte auch für diejenigen darstellen, die nicht mehr in dem Maße mit der Stadt verwurzelt sind, wie das früher der Fall war, als noch viele in der Stadt sowohl lebten und als auch arbeiteten. Heute sind die meisten Menschen Besucher oder Kunden, denen Dienstleistungen und Freizeitangebote wichtig sind. Das ist ein völlig anderer Umgang mit der Stadt.
Sie haben den „my way“ angesprochen, d.h. implizit die Ganglinienforschung, die davon ausgeht, dass sich der Mensch in der Regel nach einem Umweg vermeidenden Abkürzungsprogramm fortbewegt. Welche Konsequenzen sehen Sie in dieser Hinsicht für die Stadtgestaltung der Zukunft?
Ich würde sagen, dass ist ziemlich elementar. Die Hirnforschung sagt uns jedoch, dass Selbststeuerung und Bewegungsmotivation eines Menschen viel komplexer sind als dass man sie mit einem „Abkürzungsprogramm“ umschreiben könnte.
Wir versuchen momentan, die Innenstädte lebenswerter, vielleicht autofrei zu machen oder zumindest mehr Möglichkeiten zu bieten, sich als Fahrradfahrer oder Fußgänger durch die Stadt zu bewegen. Wesentlich ist dabei auch das Wissen, dass Fußgänger bestimmte Laufneigungen haben. Wenn ein Platz eine topografische Veränderung aufweist, sich etwa zur Seite neigt oder Unterschiede im Höhenniveau hat, beeinflusst das den Lauf erheblich. Wir erleben das Laufen als Abfolge von Bildern und Orientierungspunkten. Nach den Erkenntnissen der Hirnforschung aber ist das Laufen ein ständiger Korrektur- und Überwachungs-Prozess auf gleichzeitig vielen Ebenen und letztlich die Optimierung der Sicherheit und des Energieeinsatzes. Für die Gesellschaft spielen nicht zuletzt die signifikanten gesundheitlichen Aspekte des Laufens eine Rolle.
Fußgänger sind, laut Einzelhandelsforschung, auch die besseren Kunden. Ihre Verweildauer in der Stadt ist wesentlich höher als die der Autofahrer. Daher sollten dem Fußgänger für ihn geeignete und auf ihn zugeschnittene Bewegungsräume zur Verfügung gestellt werden. Er muss optimiert, aber auch kurzweilig und entspannt gehen können, man könnte vom Innenstadt- oder Einkaufsmodus sprechen. Fußgänger haben einen höheren Grad an Identität mit ihrer Stadt. Das Fahrrad ist ein gutes Mittel, um in die Stadt zu kommen, aber die letzte Meile ist die Fußmeile. Die Bewegung unter Menschen und die Begegnung von Mensch zu Mensch im Stadtraum sind elementar für die Sozialisation des Menschen.
Zur Feststellung bevorzugter Ganglinien werden z. B. Kameras oder Smartphones eingesetzt. Sehen Sie über die reine Erhebung von Daten hinausgehende Einsatzmöglichkeiten digitaler Medien wie etwa ‚virtual‘ oder 'augmented reality, die unsere Wahrnehmung von Plätzen verändern oder den Platz mit einem Narrativ verbinden könnten?
Aus meiner Sicht kann man den Menschen dabei ganz gut mitnehmen und ihm Angebote liefern, aber die reale Wahrnehmung hat so viele Aspekte, die sich virtuell nicht alle transportieren lassen, weil sie die Hirnrechenoperationen, die wir ja nur mal ansatzweise kennen, nicht erreichen.
Wenn ich virtuell etwas darstellen will, brauche ich nicht einmal die VR-Brille, es reicht schon, wenn ich Informationen über ein Mobiltelefon aufnehme. Das Gehirn ist in der Lage, das Virtuelle mit dem Realen zu verknüpfen. Ich kann sowohl historische Architektur und Veränderungen im Stadtraum als auch aktuelle Begebenheiten darstellen. Ich habe das selber schon erlebt und war total überrascht, dass ich mich in der Realität und gleichzeitig in einer Situation kurz nach dem zweiten Weltkrieg befand, am selben Ort. Ich war auf der Documenta in Kassel. Am Bahnhof gab es die Möglichkeit, sich ein I-Phone zu nehmen, dazu eine Beschreibung, wohin man sich bewegen sollte. Auf dem Handy war die Szenerie zu sehen, wie es vor Jahrzehnten in diesem Bahnhof aussah, und plötzlich hatte man die Wahrnehmung von zwei unterschiedlichen Realitäten. Das Hirn erkennt über das Auge den Raum und erkennt auch, dass ich ein Handy habe, und trotzdem wird der Inhalt des elektronischen Geräts quasi vergrößert in die Realität transportiert. Es hat mich sehr beeindruckt, wie aufnahmefähig das Gehirn ist und wie es erweiterte virtuelle Inhalte aufnehmen kann.
Vielen Stadtplätzen wird eine geringe Aufenthaltsqualität bescheinigt. Was führt Ihrer Meinung nach dazu und wie ließe sich dieser Missstand beheben?
Erstaunlicherweise sind manche Plätze belebt, andere überhaupt nicht, auch wenn sie schön gestaltet sind. Gestaltung ist wichtig, aber ich muss mir zunächst die Fragen stellen: „Was passiert auf diesem Platz? Wo sind die Player auf dem Platz? Kann ich den Platz überall betreten oder kann ich das auf Grund der Topografie nicht? Bin ich exponiert auf dem Platz? Es kommen viele Aspekte zusammen, die auch viel mit Sicherheits- und Fluchtwegscreening zu tun haben.
In Memmingen beispielsweise stand am Theaterplatz ein beliebter Brunnen. Er hat den Platzschwerpunkt besetzt sowie eine Lauftrennung und Laufabschirmung erzeugt. Laufbewegungen fanden nur an einer Seite des Platzes statt, auf der anderen ergab sich ein sog. Laufschatten, der schließlich Rückzugsort für Randgruppen wurde, weil dort Laufwege der Stadtbesucher nicht störten.
In der Hirnforschung geht man davon aus, dass die wahre Raumgröße an den Randlinien eines Platzes wahrgenommen wird. Der Brunnen hat diese Randlinien unterbrochen und gleichzeitig eine Zonierung geschaffen. Als wir den Brunnen entfernten, wirkte der Platz, laut Aussage des damaligen Oberbürgermeisters Dr. Ivo Holzinger bei der Eröffnung, um ein Drittel größer.
Der Planer hat die Möglichkeit Raumwahrnehmungen verändern: Möchte ich einen Platz optisch kleiner werden lassen, kann ich Pflanzen oder Mobiliar platzieren. Soll er größer wirken, muss ich solche Objekte herausnehmen. Ich kann auch den Schwerpunkt des Platzes ändern, um Menschen die Gelegenheit zu geben stehen zu bleiben, sich zu unterhalten oder sich umzusehen, ohne dabei den Lauf der Anderen zu blockieren. Dies haben wir unter anderem am Theaterplatz beispielhaft umgesetzt.
Grundsätzlich muss ich überlegen, wo Menschen laufen, wo sie sitzen wollen und sollen. Wenn ich an einem Platz sitze und vielleicht ein Eis esse, möchte ich außerhalb der Lauflinie sein. Sonst ist das nicht atmosphärisch, sondern ein Stressfaktor. Dies sind stadtraumpsychologische Aspekte mit denen sich Planer auseinandersetzen, um eine möglichst hohe Aufenthaltsqualität zu erzeugen.
Das Interview führte Barbara Wolf
Mathias Rothdach studierte von 1981-1985 Architektur an der FH-Augsburg und von 1986-1994 Städtebau an der Universität Stuttgart bei Prof. Klaus Humpert und Prof. Heinz Nagler. Von 1986-1991 Büro für Architektur und Stadtplanung. Von 1991-2018 Stadtplaner und Projektentwickler / Projektleiter „Innenstadt“ im Stadtplanungsamt Memmingen. Seit 2018 stellvertretender Stadtbaumeister im Bauamt der Stadt Landsberg am Lech, mit Schwerpunkt Projektentwicklung, Stadtplanung, Klimaschutz und Umwelt.
Sonderthemen:
Baukultur, Stadtraumpsychologie, Hirnforschung